7.4.13. Der Perowskit–Strukturtyp

Der Perowskit–Strukturtyp ein weit verbreiteter, wichtiger Strukturtyp.

Er ist relativ einfach und übersichtlich aufgebaut, und daher mit nur wenig Mühe gut zu verstehen.

Der Anwendungsreiche

Stoffe, die den Perowskit–Strukturtyp besitzen, haben weit reichende Anwendungen erfahren. Im folgenden werde ich immer wieder auf diese Anwendungen eingehen.

Der Variantenreiche

Es gibt viele Stoffe, die im Perowskit–Strukturtyp kristallisieren. Noch mehr Stoffe gibt es, deren Kristallstruktur vom Perowskit–Typ abweicht, aber aus ihm in systematischer Weise erhalten werden kann.

Ein Teil dieser Kristallstrukturen entsteht aus dem Perowskit–Typ durch regelmäßiges Ersetzen einzelner Ionen der Elementarzelle durch andere Ionen. Dieses Vorgehen beschreibe ich in Kapitel xxx (Überstrukturen).

Der andere Teil entsteht auf andere Weise, und es ist der mit Abstand interessantere Teil. Die hier entstehenden Strukturen sind die für technische Anwendungen gebrauchten. Ich nenne diese Strukturen die Varianten des Perowskit–Typs und schreibe darüber in Kapitel xxx – demnächst.

Das Mineral und der Name

Das Mineral Perowskit besteht aus Calciumtitanat mit der Formel CaTiO3. Da es bereits früh untersucht wurde, benannte man den Strukturtyp nach ihm. Später, als genauere Messungen möglich waren, stellte es sich heraus, dass seine Kristallstruktur geringe Abweichungen vom Perowskit–Typ hat, dass es also eine der Varianten aus dem vorigen Absatz ist.

Im folgenden erkläre ich den Perowskit–Strukturtyp am Strontiumtitanat (SrTiO3), dass diesen Typ wirklich exakt besitzt.

Perowskit oder Perovskit ?

Auf meinen Seiten schreibe ich über den Perowskit–Typ. In anderen Texten können Sie vom Perovskit–Typ lesen.

Sind diese beiden Typen dasselbe ?

Und welche Bezeichnung ist die Richtige ?

Der Strukturtyp, um den es hier geht, wurde nach einem russischen Politiker und Förderer der Wissenschaften benannt. Natürlich wird sein Name mit kyrillischen Schriftzeichen geschrieben. Das sieht dann so aus.

Лев Алексёевич Перовский

Die Frage ist nun, wie wird daraus ein Name, den Menschen, die mit lateinischen Schriftzeichen vertrauter sind als mit kyrillischen, richtig (also so wie ein Russe oder eine Russin es sagen würde) aussprechen können.

Dieser Vorgang heißt Transkription, und sein Ergebnis soll sich an den Kenntnissen der Zielgruppe orientieren. Das heißt, wenn Deutschsprechende den ins Deutsche transkribierten Namen lesen, so wie sie einen deutschen Namen lesen würde, soll er (in etwa) so klingen wie das russische Original.

Перовский

Bild 2 : Der Nachname des Namensgebers, in kyrillischen Zeichen.

Das Problem hier ist das fünfte Zeichen des Nachnamens, das aussieht wie ein lateinsches B, aber keines ist (vgl. Bild 2).

Man spricht dieses kyrillische Zeichen wie ein stimmhaftes w aus, wie in Wetter oder Wein. Man spricht es nicht wie ein v (wie in Vater oder Vogel) aus. Der ins Deutsche transkribierte Name lautet also korrekt (und vollständig) Lew Alexejewitsch Perowski.

Englischsprechende denken anders über dieses Thema. V und w werden dort (nach Meinung des Autors) fast gleich ausgesprochen, und zur Transkription des в wurde das v gewählt. Man erhält (als vollständigen Namen) Lev Alekseyevich Perovski.

Perowskit und Perovskit sind dasselbe. Da sich diese Seiten an Deutschsprechende wenden, nenne ich den Strukturtyp einmal, nämlich hier, Perowskit (engl. Perovskit), und ab jetzt nur noch Perowskit.

7.4.13.1. Allgemeine Formel

Es gibt sehr viele Stoffe, die im Perowskit–Strukturtyp kristallisieren, mit vielen unterschiedlichen Zusammensetzungen und Formeln. Oft will man sich auf diejenigen Metallatome beziehen, die den Strontiumionen in SrTiO3 entsprechen, oder auf die, die den Titanatomen entsprechen.

Für diese Zwecke ist es geschickt, eine allgemeine Formel einzuführen. Hier ist sie.

ABO3 : allgemeine Formel für sauerstoffhaltige Stoffe,
xxxxxxx die im Perowskit–Typ kristallisieren.
ABX3 : allgemeine Formel für alle Stoffe des Perowskit–Typs.

Im Strontiumtitanat (SrTiO3) sind die Strontiumionen auf den A–Positionen und die Titanionen auf den B–Positionen.

7.4.13.2. Zwei Arten der Beschreibung

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 3 : Ausschnitt aus dem Perowskit–Strukturtyp. Der Ausschnitt hat eine Größe von 4 Elementarzellen des Typs EZ1. Mehr Info im Text. Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

Bereits in Kapitel 7.1.3.2. hatten Sie erfahren, dass die Wahl einer Elementarzelle nicht eindeutig ist.

Perowskit gehört zu den Strukturtypen, bei denen 2 Arten der Beschreibung, durch 2 verschiedene Elementarzellen, gleichberechtigt nebeneinander stehen.

Bild 1 zeigt 2 Elementarzellen, von denen jede ein Titanion im Ursprung und ein Strontiumion im Zentrum besitzt. Die Elementarzellen sind kubisch (würfelförmig).

In Bild 3 sehen Sie 4 solcher Elementarzellen, dazu ein paar weitere Atome, und einen orangefarben markierten Würfel. Dieser Würfel ist entstanden, indem ich eine der 4 Elementarzellen um eine halbe Raumdiagonale verschoben habe. Entsprechend den Regeln in Kapitel 7.1.3.2. ist dies wieder eine Elementarzelle. Sie hat im Zentrum ein Titanion und im Ursprung (an der linken unteren vorderen Ecke) ein Strontiumion, und natürlich ist sie auch kubisch.

Die beiden Elementarzellen bekommen (nur für dieses Projekt) die Bezeichnungen EZ1 (die aus Bild 1) und EZ2 (die andere).

 

2 Arten von Elementarzellen für den Perowskit–Typ.
EZ1 :
xxxx Ursprung – Titanion
xxxx Zentrum – Strontiumion.
EZ2 :
xxxx Ursprung – Strontiumion
xxxx Zentrum – Titanion.

 

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 4 : 2 Elementarzellen des Typs EZ2. Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

2 Elementarzellen des Typs EZ2 können Sie in Bild 4 sehen. Vergleichen Sie die Bilder 1 und 4. Versuchen Sie zu erkennen, was man in dem einen Bild besser erkennen kann, und was in dem anderen deutlicher wird.

Im weiteren Verlauf des Kapitels werde ich bevorzugt EZ1 wählen, aber, wenn es Vorteile verspricht, auch EZ2.

7.4.13.3. Umgebungen und Packung

In diesem Abschnitt beschreibe ich den Perowskit–Strukturtyp im Detail. Dazu betrachte ich die 3 Ionenarten und ihre Beziehungen zu anderen und gleichen Ionen im Kristall, und ich versuche, Muster zu erkennen. Ich benutze die Elementarzelle vom Typ EZ1 (Bilder 1 und 3) und die dazu äquivalente Elementarzelle vom Typ EZ2 (Bild 4) parallel.

Die Titan–Ionen

Zum Einstieg etwas Einfaches. Bei den Titan–Ionen sind die Verhältnisse, so denke ich, am Übersichtlichsten.

Allein durch Betrachten der Bilder mit den Elementarzellen (EZ1 und EZ2) erhält man eine Menge Einsichten.

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 5 : 6 Sauerstoff–Ionen umgeben ein Titan–Ion oktaedrisch. Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

Anordnung. – Die Titan–Ionen besetzen die Ecken des Elementarzellen–Würfels. Man bezeichnet diese würfelförmige Anordnung als kubisch primitiv.

Nachbarn. – Jedes Titan–Ion ist von 8 Strontium–Ionen umgeben. Die 8 Strontium–Ionen bilden einen Würfel, und das Titan–Ion ist in seinem Zentrum.

Näher am Titan–Ion sind die Sauerstoff–Ionen. 6 von ihnen sind die nächsten Nachbarn des Titan–Ions. Der Abstand aller 6 Sauerstoff–Ionen vom Titan–Ion ist gleich, er beträgt die halbe Länge der Kante der Elementarzelle. Die Sauerstoff–Ionen umgeben das Titan–Ion in sehr regelmäßiger Art, sie bilden einen Oktaeder, dessen Zentrum das Titan–Ion besetzt. Das Titan–Ion ist oktaedrisch von 6 Sauerstoff–Ionen umgeben. Bild 5 zeigt eine Elementarzelle (EZ2) mit dem Oktaeder. Diese TiO6–Oktaeder werden uns im weiteren Verlauf noch öfter begegnen.

Die Strontium–Ionen

Anordnung. – Die Strontium–Ionen besetzen die Ecken des Elementarzellen–Würfels (EZ2). Wie schon bei den Titan–Ionen ist ihre Anordnung kubisch primitiv.

Titan–Nachbarn. – Jedes Strontium–Ion ist von 8 Titan–Ionen umgeben. Die 8 Titan–Ionen bilden einen Würfel, und das Strontium–Ion ist in seinem Zentrum.

Bis hierher sind die Beschreibungen der beiden Metallionen sehr ähnlich. Das ist nicht verwunderlich, denn die Positionen der einen Sorte erhält man aus denen der anderen Sorte durch Verschiebung um die halbe Raumdiagonale.

Sauerstoff–Nachbarn. – Die nächsten Nachbarn der Strontium–Ionen sind Sauerstoff–Ionen. Die Entfernung beträgt eine halbe Flächendiagonale, und es sind 12 Sauerstoff–Ionen. Sie sind (in EZ1) an den Mitten der 12 Würfelkanten, die die Elementarzelle bilden. Zwölf Nachbarn ? Sicher haben Sie schon beim Lesen bemerkt, welches Muster hier auf uns zukommt. In den dichtesten Kugelpackungen hat jede Kugel 12 Nachbarn.

Bilden also die Strontium–Ionen eine dichteste Kugelpackung ? Nein, denn ihre Nachbarn sind keine Strontium–Ionen, sondern Sauerstoff–Ionen. Und auch die Sauerstoff–Ionen allein tun das nicht.

Tatsächlich bilden die Strontium– und die Sauerstoff–Ionen gemeinsam eine kubisch–dichteste Kugelpackung.

Ein Einwand. – Geht das überhaupt ? In den Abschnitten über die dichtesten Kugelpackungen (Kapitel 7.3.1. (hexagonal) und Kapitel 7.3.2. (kubisch)) waren doch immer alle Kugeln gleich. Ja, aber diese Gleichheit haben wir nie benutzt oder gebraucht. Alle Argumentationen gelten genauso für Packungen aus unterschiedlichen Kugeln. Und auch die unterschiedlichen Ladungen der Kugeln (Strontium–Ionen positiv, Sauerstoff–Ionen negativ geladen) sind erst mal kein Problem. Vergleichen Sie dazu Kapitel 7.4.1. über das Lückenfüllen. Dort können Sie nachlesen, dass sich in Ionenkristallen die Kugeln der Kugelpackung gar nicht berühren. Aufpassen müssen wir an anderer Stelle, dass uns die Ladungsverteilung nicht doch noch auf die Füße fällt.

Die Sauerstoff–Ionen

Titan–Nachbarn. – Die nächsten Nachbarn der Sauerstoff–Ionen sind 2 Titan–Ionen, jeweils eine halbe Kantenlänge der Elementarzelle entfernt.

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 6 : Ausschnitt aus dem Perowskit–Strukturtyp. Der Ausschnitt hat eine Größe von 4 Elementarzellen des Typs EZ1. Mehr Info im Text. Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

Nachbarn in der Kugelpackung. – Die Sauerstoff–Ionen bilden zusammen mit den Strontium–Ionen eine kubisch–dichteste Kugelpackung. In solchen Packungen hat jede Kugel 12 Nachbarn in gleichem Abstand.

Bild 6 zeigt die Nachbarn des (für dieses Bild) zentralen Sauerstoff–Ions – es gehört zu allen 4 Elementarzellen–Würfeln.

2 rote Quadrate haben an den Ecken insgesamt 8 Sauerstoff–Ionen. Die Entfernung zum zentralen Ion beträgt eine halbe Flächendiagonale der Elementarzelle. Im gleichen Abstand zum zentralen Ion sind die 4 Strontium–Ionen des Bildes. Um das Bild übersichtlich zu halten, habe ich keine Ebene hindurch gezeichnet.

Jedes Sauerstoff–Ion ist also von 8 Sauerstoff–Ionen und 4 Strontium–Ionen umgeben.

Die Kugelpackung

Die Strontium– und die Sauerstoff–Ionen bilden gemeinsam eine kubisch–dichteste Kugelpackung. Das ist (vgl. Kapitel 7.3.2.2.) auch eine kubisch flächenzentrierte Kugelpackung. Bild 4 zeigt diese Tatsache deutlich.

In Kapitel 7.3.2. haben Sie erfahren, dass man die kubisch–dichteste Kugelpackung aus Kugelschichten aufbauen kann.

Frage 1 – Wo findet man diese Kugelschichten in den Bildern der Elementarzellen ?

Frage 2 – Die allgemeine Formel für Stoffe des Perowskit–Typs ist ABX3 (oder im hier betrachteten Beispiel SrTiO3. Die A–Ionen (Strontium–Ionen) belegen also ein Viertel der Plätze der Kugelpackung, und bei Betrachtung der Elementarzellen ist sicher klar, dass sie es in regelmäßiger Art tun. Aber wo genau liegen die Strontium–Ionen in den Kugelschichten ? Und hängt die Lage der Strontium–Ionen in einer Schicht von der Lage in der Nachbarschicht ab ?

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 7 : Ausschnitt aus dem Perowskit–Strukturtyp (EZ2) mit einer Ebene, die entlang der Kugelschichten verläuft. Mehr Info im Text. Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

Kugelschichten im Würfel. – Bild 16 in Kapitel 7.3.2.2. (kubisch–dichteste Kugelpackung) zeigt, wie der Würfel (Elementarzelle) in den Kugelschichten liegt. Sie sehen dort eine Kugelschicht, in der 3 Ecken der Elementarzelle (dort dunkelblau gefärbt) und 3 Flächenmitten (dort hellgrün) liegen. Die 3 Ecken sind jeweils durch eine Flächendiagonale getrennt, die Flächenmitten liegen (natürlich!) auf diesen.

Finden wir in der Elementarzelle des Perowskit–Typs eine (oder mehrere) Ebenen mit diesen Eigenschaften (Ebene geht durch 3 Ecken, die durch eine Flächendiagonale getrennt sind), haben wir die Kugelschichten gefunden.

Bild 7 zeigt eine solche Ebene (orange gezeichnet). Diese Ebene ist natürlich unendlich groß (das ist in der Mathematik eine Eigenschaft von Ebenen). Der gezeigte Ausschnitt erstreckt sich über die beiden Elementarzellen und enthält 9 Ionen. Gewiss ist er zu klein, um begründete Aussagen zu machen, aber es sieht so aus (und, ohne es haarklein zu beweisen, es ist auch so), dass sich Reihen von Sauerstoff–Ionen abwechseln mit Reihen, in denen sich Strontium– und Sauerstoff–Ionen abwechseln.

Bild 17 in Kapitel 7.3.2.2. zeigt (und auch in Bild 16 desselben Kapitels können Sie es erkennen), dass die Kugelschichten jeweils senkrecht auf einer Raumdiagonalen der Elementarzelle stehen. In Bild 7 habe ich 2 davon eingezeichnet (blau).

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 8 : Kugelschichten im Perowskit–Strukturtyp, schematisch. Mehr Info im Text. Sauerstoff–Ionen in verschiedenen Rottönen, Strontium violett.

Kugelschichten ohne ihren Würfel. – Um die zweite Frage beantworten zu können, sehen Sie sich Bild 8 an. Im oberen Teil zeigt es eine Kugelschicht, ähnlich der in Bild 7, aber ausgedehnter. Schnell sehen Sie, dass sich Schichten, die nur aus Sauerstoff–Ionen (rot gezeichnet) bestehen, mit Schichten abwechseln, in denen sich Sauerstoff– und Strontium–Ionen (violett) abwechseln. Dieses Abwechseln funktioniert übrigens nicht nur, wenn Sie das Bild zeilenweise (so wie man Text liest) betrachten, sondern auch in 2 andere Richtungen (schräg, nach oben rechts und nach oben links).

Im zweiten Teil der zweiten Frage ging es darum, ob die Lage der Strontium–Ionen in einer Schicht abhängig von der Nachbarschicht ist. Kurz gesagt, die Antwort lauetet ja.

Sehen Sie sich zuerst den mittleren Teil von Bild 8 an. Einmal sehen Sie dort dieselben Kugeln (Ionen) wie im oberen Teil, jedoch verkleinert, damit man besser erkennen kann, was sich hinter dieser Schicht abspielt. Und was finden wir hinter (oder unter) der Anfangsschicht ? Es sollte nicht erstaunen, dass dort genauso eine Schicht ist, mit Reihen aus Sauerstoff–Ionen und Sauerstoff– und Strontium–Ionen. Ich habe die Ionen dieser Schicht dunkler gezeichnet. Klar sein sollte auch, dass diese hintere Schicht gegenüber der Anfangsschicht verschoben ist. In Kapitel 7.3.2.1. (Aufbau der kubisch–dichtesten Kugelpackung) habe ich erklärt, dass eine neue Kugel immer in eine Mulde gelegt wird, die aus 3 Kugeln der vorigen Schicht gebildet wird. Die Strontium–Ionen der hinteren Schicht liegen (man kann auch sagen, sie hängen oder stecken) nun immer in einer Mulde aus 3 Sauerstoff–Ionen der Anfangsschicht.

Wenn Sie den mittleren Teil von Bild 8 genauer betrachten, finden Sie Dreiergruppen aus Sauerstoff–Ionen, zu deren Mulde ein Strontium–Ion (violett) gehört, und andere Dreiergruppen von Sauerstoff–Ionen, zu deren Mulde kein Strontium–Ion gehört. Genauer, hinter den zuletzt genannten Dreiergruppen ist überhaupt kein Ion, und so gesehen ist der Aufbau noch nicht allzu symmetrisch. Aber die kubisch–dichteste Kugelpackung hat ja die Stapelfolge ABCABC… (→ Kapitel 7.3.2.1.).

Wir sollten also noch eine weitere Schicht betrachten. Das geschieht im unteren Teil von Bild 8. Dieser Teil zeigt einmal dieselben Kugeln (Ionen) wie der mittlere Teil. Dazu kommt eine Reihe von 5 Kugeln. Es sind nur fünf, um die Szene übersichtlich zu halten, und man braucht nicht mehr, um sie zu verstehen. Diese 5 neuen Kugeln habe ich heller gezeichnet. Eine (hellviolette) Kugel, die für ein Strontium–Ion steht, liegt genau auf einer der Dreiergruppen von Sauerstoff–Ionen, deren Mulde eben noch unbesetzt war.

Wir haben den Aufbau der Kugelschichten im Perowskit–Typ nun verstanden. Die Strontium–Ionen sind in alle 3 Raumrichtungen symmetrisch verteilt. Nie sind Strontium–Ionen einander benachbart.

Die Titan–Ionen. – Über die Sauerstoff– und die Strontium–Ionen haben Sie nun sicher genug gehört. Haben auch die Titan–Ionen einen Platz in der Kugelpackung ?

Ja, und ich habe ihre Rolle schon erwähnt, jedoch nicht in den Vordergrund gestellt. Sehen Sie sich noch einmal Bild 5 an. 6 Sauerstoff–Ionen umgeben ein Titan–Ion oktaedrisch. Und die Sauerstoff–Ionen sind Teil einer dichtesten Kugelpackung. Das heißt aber, dass die Titan–Ionen in den Oktaederlücken der Kugelpackung liegen.

Die Formel von Strontiumtitanat lautet SrTiO3. Die Kugelpackung wird, bezogen auf eine Formeleinheit, aus 4 Ionen (3 Sauerstoff– und ein Strontium–Ion) gebildet, und es ist nur ein einziges Ion zur Besetzung der Oktaederlücken vorhanden. In der kubisch–dichtesten Kugelpackung sind aber genauso viele Oktaederlücken wie Kugeln vorhanden (→ Kapitel 7.3.2.5.). Die Folgerung ist, dass nur ein Viertel der Oktaederlücken besetzt wird. Diese Tatsache wird später noch einer Menge komplexer Auswirkungen haben.

Zuerst aber steht die Frage im Raum : Welches Viertel ? Der erste Schritt wird sein, die Oktaederlücken zu identifizieren. Sehen Sie sich dazu noch einmal Bild 4 an. Die Elementarzelle der kubisch–dichtesten Kugelpackung enthält 4 Kugeln (→ Kapitel 7.3.2.7.). Sie enthält also auch 4 Oktaederlücken. Deren Positionen habe ich in Kapitel 7.3.2.9. beschrieben. Sie liegen im Mittelpunkt des Elementarzellenwürfels und auf seinen Kantenmitten. Die Oktaederlücke im Würfelzentrum ist belegt, mit einem Titan–Ion. Die Oktaederlücken auf den Kantenmitten sind nicht belegt. Warum auf den 12 Würfelkanten genau 3 Kugeln (Oktaederlücken) liegen, habe ich in Kapitel 7.1.3.4 erklärt.

Ist Ihnen beim Betrachten der Oktaederlücken etwas aufgefallen ? Die Lücke, die vom Titan–Ion belegt wird, hat nur Sauerstoff–Ionen als Nachbarn. Oder anders gesagt, das positiv geladene Titan–Ion hat nur negativ geladene Sauerstoff–Ionen als Nachbarn. Das ist wichtig, denn die Kugeln der Kugelpackung und die Lücken berühren einander (→ Kapitel 7.4.1.1. – Lückenfüllen), und das geht nur, wenn die Ionen entgegengesetzt geladen sind. Die anderen 3 Oktaederlücken haben als Nachbarn positiv geladene Strontium–Ionen und negativ geladene Sauerstoff–Ionen. Dort können weder positive noch negative Teilchen sein, denn sie würden immer gleichnamige Ladungen berühren. Wir haben Glück gehabt, und der Einwand von weiter oben (Umgebung der Strontium–Ionen) kann zurückgewiesen werden. Die Ladungsverteilung ist uns nicht auf die Füße gefallen.

7.4.13.4. Eine andere Sichtweise – Netzwerk

Netzwerk aus Oktaedern

Bild 9 : Netzwerk der Oktaeder im Perowskit–Strukturtyp. Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

Das Netzwerk im Perowskit–Strukturtyp ist übersichtlich. Es besteht aus Oktaedern. Jeder hat ein Titan–Ion im Zentrum und 6 Sauerstoff–Ionen an den Ecken. Einen dieser Oktaeder haben Sie bereits in Bild 5 gesehen.

Bild 9 zeigt einen Ausschnitt, der insgesamt 8 Oktaeder umfasst. Jeder liegt zentral in einem Elementarzellenwürfel (4 Elementarzellen sind eingezeichnet). Die Sauerstoff–Ionen an den Ecken jedes Oktaeders liegen auch gleichzeitig auf den Flächenmitten des Würfels. Weil jedes Sauerstoff–Ion zu 2 Würfeln gehört, berührt dort jeder Oktaeder einen weiteren. Und weil jeder Würfel 6 Seitenflächen hat (und jeder Oktaeder 6 Ecken), berührt jeder Oktaeder 6 weitere Oktaeder.

Die Oktaeder berühren sich an den Ecken. Deshalb nennt man das Netzwerk eckenverknüpft (engl. corner sharing oder vertex sharing).

Es scheint selbstverständlich zu sein, dass alle Oktaeder die gleiche Ausrichtung haben. In würfelförmigen Elementarzellen, die aneinander gereiht werden, ist ja nichts anderes möglich. Jedoch wird es bald um Varianten des Perowskit–Typs gehen, bei denen diese Bedingung nicht mehr erfüllt ist.

Perowskit–Strukturtyp ABX3
kubisch–dichteste Kugelpackung
xxxx wird aus A– und X–Ionen gebildet
Oktaederlücken
xxxx zu einem Viertel von B–Ionen besetzt
Netzwerk
xxxx aus eckenverknüpften Oktaedern gleicher Ausrichtung

 

7.4.13.5. Der Toleranzfaktor

Viele Stoffe mit der Summenformel ABX3 nehmen den Perowskit–Strukturtyp an, aber nicht alle.

Was sind die Gründe für dieses Verhalten ? Es gibt mehrere. Eine, rein geometrische, Bedingung werde ich in diesem Abschnitt vorstellen, und ich werde darauf eingehen, was passiert, wenn sie nicht erfüllt ist.

Fußnote 1 : Hier lauert eine Falle. Es gibt 2 Personen mit dem Namen Victor M. Goldschmidt, und beide haben sich mit Kristallen beschäftigt. Victor Moritz Goldschmidt gehört zu den Begründern von Geochemie und Kristallchemie und hat in diesem Rahmen den Toleranzfaktor eingeführt, während Victor Mordechai Goldschmidt ein Jahrzehnt früher (1913) mit seinem umfassenden Werk „Atlas der Krystallformen” Maßstäbe setzte.

Diese Bedingung ist der Toleranzfaktor (engl. tolerance factor). Er wurde von Victor M. Goldschmidt (→ Fußnote 1) in den 1920er Jahren eingeführt.

Fußnote 1 : Hier lauert eine Falle. Es gibt 2 Personen mit dem Namen Victor M. Goldschmidt, und beide haben sich mit Kristallen beschäftigt. Victor Moritz Goldschmidt gehört zu den Begründern von Geochemie und Kristallchemie und hat in diesem Rahmen den Toleranzfaktor eingeführt, während Victor Mordechai Goldschmidt ein Jahrzehnt früher (1913) mit seinem umfassenden Werk „Atlas der Krystallformen” Maßstäbe setzte.

Berechnung

Man geht davon aus, dass der Kristall aus festen Kugeln besteht, die einander berühren. Im nächsten Schritt sucht man eine einfache Beziehung zwischen den Radien der beteiligten Ionen. Dazu legt man eine Ebene diagonal durch die Elementarzelle.

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 10 : Elementarzelle (EZ2) des Perowskit–Strukturtyps mit einer Ebene. Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 11 : Blick senkrecht auf die Fläche in Bild 10. Daten aus L–12.

Bild 10 zeigt die Elementarzelle (EZ2) zusammen mit einem Ausschnitt der Ebene. Dort sind, wie in den meisten anderen Bildern, die Ionen verkleinert. In Bild 11 sehen Sie von oben auf einen etwas größeren Ausschnitt derselben Ebene. Er enthält ein Titan–Ion (hellblau gezeichnet), 2 Sauerstoff–Ionen (rot) und 4 Strontium–Ionen (violett). Hier sind die Ionen so gezeichnet, dass sie sich berühren.

Nun findet man schnell die gesuchte Beziehung. Vom Mittelpunkt des Titan–Ions habe ich eine Linie zum Mittelpunkt des Sauerstoff–Ions gezeichnet. Ihre Länge ist die halbe Kantenlänge a der Elementarzelle.

a/2 = rTi + rO = dTi – O

Die senkrechte Begrenzung der Fläche in Bild 11 verläuft entlang der Flächendiagonale des Elementarzellenwürfels. Ihre Länge ist also sqrt(2)⋅a. Und die Strecke vom Mittelpunkt des Sauerstoff–Ions zum Mittelpunkt des Strontium–Ions ist gerade halb so lang wie diese Flächendiagonale.

sqrt(2) ⋅ a/2 = rSr + rO = dSr – O

Benutzt man die allgemeine Formel des Perowskit–Typs (ABX3), erhält man

a/2 = rB + rX = dB – X
sqrt(2) ⋅ a/2 = rA + rX = dA – X .

Die untere Gleichung wird nach a/2 aufgelöst.

a/2 =
dA – X sqrt(2)

Setzt man diesen Ausdruck mit der passenden Gleichung gleich, ergibt sich

dB – X =
dA – X sqrt(2)

und weiter

1 =
dA – X sqrt(2) ⋅ dB – X .

Diese Bedingung gilt für den idealen Perowskit–Strukturtyp. Nicht immer sind diese Beziehungen zwischen den Radien perfekt erfüllt, und trotzdem nehmen Stoffe den Perowskit–Typ an. Eine gewisse Toleranz ist beim Verhältnis der Ionenradien also möglich, und daher heißt der Ausdruck auf der rechten Seite Toleranzfaktor und erhält die Bezeichnung t. Er ist definiert durch

t =
dA – X sqrt(2) ⋅ dB – X .
_____ Gleichung 1 – Der Toleranzfaktor
Die Modellannahmen

Mehrere Annahmen sind bei der Berechnung des Toleranzfaktors gemacht worden.

Der Kristall besteht aus festen Kugeln. – Bereits in Kapitel 3.7.2. (Modelle) habe ich darauf hingewiesen, dass die Hülle aller Atome aus Elektronen besteht, und dass die Elektronendichte immer geringer wird, je weiter man sich vom Atomkern entfernt, dass sie aber nie Null wird.

Trotzdem ist es sinnvoll, Kristalle von Stoffen, die im Perowskit–Typ kristallisieren, mit diesem Modell zu beschreiben. Die meisten hier vorkommenden Ionen sind (im Sinn der Fajans–Regeln) hart (→ Kapitel 5.8.3. – Polarisierbarkeit), das heißt wenig polarisierbar, und sie verhalten sich wirklich fast wie Tennisbälle.

Der Kristall besteht aus Ionen, die einander berühren. – Bereits in Kapitel 7.4.1.1. (Lückenfüllen) habe ich betont, dass in einer Kugelpackung oder in einem Kristall sich nur entgegengesetzt geladene Ionen berühren können.

Bild 8 scheint diesem Prinzip zu widersprechen, denn dort berühren sich an vielen Stellen negativ geladene Sauerstoff–Ionen. Jedoch ist das Bild schematisch. Bild 11 zeigt, dass die Strontium–Ionen deutlich größer sind als die Sauerstoff–Ionen. Zwischen 2 Sauerstoff–Ionen wird also immer ein wenig Platz sein, sie berühren sich nicht. Zum zweiten Mal haben wir Glück gehabt, und der Einwand von weiter oben (Umgebung der Strontium–Ionen) kann zurückgewiesen werden. Die Ladungsverteilung ist uns wieder nicht auf die Füße gefallen.

Die Ionen haben eine feste, messbare Größe. – Bereits in Kapitel 3.7.3. (Modelle) habe ich über die Schwierigkeiten geschrieben, Ionen einen eindeutigen Ionenradius zuzuweisen.

Trotzdem konnten die Forschenden Tabellen mit Ionenradien aufstellen, die zur Beschreibung von Kristallstrukturen gut zu gebrauchen sind. Wichtig ist nur, dass die Zahlenwerte konsistent sind. Das heißt, sie müssen unter denselben Annahmen erstellt sein, und sie müssen in sich widerspruchsfrei sein. Bei den hier benutzten ist das der Fall, sie sind aus L–12.

Die Ionen haben eine ganzzahlige Ladung. – Bereits in Kapitel 3.7.4. (Modelle) habe ich darauf hingewiesen, dass Ionen in Kristallen keine ganzzahlige Ladung besitzen. Die tatsächlich vorhandenen Ladungen hängen von den Elektronegativitäten der beteiligten Elemente ab.

Im hier durchgehend benutzten Beispiel (SrTiO3) hat die Bindung zwischen dem Strontium–Ion und dem Sauerstoff–Ion einen Ionencharakter von etwa 80 %, die zwischen Titan und Sauerstoff von etwa 60 %. Es ist in Ordnung, beide Bindungen als Ionenbindung zu bezeichnen. Die Angaben der Ionenladung (zum Beispiel 2– beim Sauerstoff–Ion), sind sicher etwas größer als die realen Ladungen, aber als Kommunikationsgrundlage gut brauchbar.

Fazit. – Ich habe 4 Annahmen identifiziert, und alle 4 als gerechtfertigt erkannt.

Was passiert, wenn t ≠ 1 ist ?

Gleichung 1 gilt für den idealen Perowskit–Struktutyp. Aber der Ausdruck auf der rechten Seite heißt Toleranzfaktor. Abweichungen müssen also möglich sein. Sind sie nur gering, so erwarten wir, dass der Stoff trotzdem im Perowskit–Typ kristallisiert, sind sie allzu groß, wird das wohl nicht passieren. Aber wann sind sie gering, wann groß ?

Bevor ich ins Detail gehe, will ich eine Bemerkung und eine Rechnung voranstellen.

Kleine Rechnung. – Wie groß ist der Toleranzfaktor eigentlich im ständig benutzten Beispiel SrTiO3 ? Für die Rechnungen nehme ich die Radien aus Bild 11. Sie sind aus L–12.

t =
dA – X sqrt(2) ⋅ dB – X
=
rA + rX sqrt(2) ⋅ ( rB + rX )
=
rSr + rO sqrt(2) ⋅ ( rTi + rO )
=
158 pm + 128 pm sqrt(2) ⋅ ( 75 pm + 128 pm )
=
286 pm 287,09 pm
= 0,996

Ok, das passt.

Kleine Bemerkung. – Exakte Zahlen erwecken den Eindruck genauer Rechnungen und exakter Ergebnisse. Jedoch kann der Output nie besser sein als der Input.

Bei den Eingabegrößen sind 2 Dinge zu bedenken.

Die in der folgenden Übersicht genannten Zahlenwerte sind also nicht als exakte Grenzen zu sehen, sondern als grobe Anhaltspunkte zu interpretieren.

Nun aber zur Frage der Überschrift : Was passiert, wenn t ≠ 1 ist ?

7.4.13.6. Die Gekippten

Worum geht es ?

Es geht um die Oktaeder. In Bild 5 sehen Sie einen, in Bild 9 eine Achtergruppe. Bis jetzt, im Beispiel, konnten wir sie TiO6–Oktaeder nennen. Nun geht das nicht mehr, denn SrTiO3 hat keine gekippten Oktaeder. Sie heißen ab jetzt korrekt BX6–Oktaeder.

Diese Oktaeder sind stabile Gebilde. Kleine Ionen mit hohen Ladungen (→ Bild 11) bewirken das. Alle folgenden Überlegungen benutzen die Annahme, dass die Oktaeder regulär sind und sich nicht verändern. Diese Annahme ist (von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen) auch richtig. Dazu kommt, dass die Begriffe Kippen und tilt eher für statische Phänomene stehen, während mit rotate gern dynamische Vorgänge assoziiert werden.

Die Oktaeder können in einigen ABX3–Verbindungen gekippt sein, im Vergleich zu denen im Perowskit–Typ.

Was heißt Kippen ? – Die Oktaeder werden gedreht. Da die Drehungen eher klein sind, und die Oktaeder danach etwas schief im Raum stehen, hat sich in der englischsprachigen Literatur der Begriff tilt durchgesetzt. Er bedeutet Kippen.

Wie werden die Oktaeder gekippt ? – Sie werden um die Koordinatenachsen der Elementarzelle des Perowskit–Typs gedreht. Bisher habe ich diese Achsen mit x, y und z bezeichnet. Das war legitim, denn die Elementarzelle war kubisch. Nach dem Kippen ist sie das (von Ausnahmen abgesehen) nicht mehr, und die Achsen heißen nun a, b und c. Man kann die Oktaeder um die a–Achse, die b–Achse und die c–Achse kippen. Man kann sie um eine der 3 Achsen, um 2 oder um alle 3 kippen (nacheinander).

Die Systematik des Kippens ist eine aufwändige Sache und wird hier nicht weiter behandelt. Mehr dazu finden Sie in der Pionierarbeit von Glazer (L–281), sowie in L–282 und L–283, und bestimmt noch an vielen anderen Stellen.

Im folgenden werde ich 2 wichtige Eigenschaften des Kippvorgangs nennen und einige Beispiele vorstellen.

Ausschnitt des Perowskit-Strukturtyps

Bild 12 : Ein BX6–Oktaeder, senkrecht von oben gesehen (d.h. entlang der c–Achse). Farbcodierung : Strontium, Titan, Sauerstoff.

Platz sparen

Bild 12 zeigt dieselbe Elementarzelle wie Bild 5, jedoch von oben gesehen. Man kann auch sagen, dass man entlang der c–Achse blickt. Der Oktaeder sieht nun wie ein Quadrat aus.

Im folgenden will ich den Kippvorgang anschaulich zeigen, und deshalb werden die nächsten Bilder etwas schematischer gestaltet. Zuerst lasse ich die A–Ionen (im Beispiel waren es Strontium–Ionen, violett gezeichnet) weg, denn sie sind am Kippen nicht beteiligt.

Als nächstes lasse ich die Kanten der Elementarzelle (schwarz oder grau) weg, denn die Elementarzelle wird bald eine ganz andere sein. Statt dessen werde ich mehrere Elementarzellen zeichnen.

 

Neun Oktaeder, schematisch

Bild 13 : 9 Oktaeder, von oben gesehen, schematisch, abwechselnd cyan / orange farbcodiert.

Neun Oktaeder, schematisch

Bild 14 : Dieselben 9 Oktaeder wie in Bild 13, nun jedoch um eine Achse, die in Blickrichtung verläuft, um 20° gekippt.

In Bild 13 sehen Sie das Ergebnis.

Dort sind 9 Oktaeder. Sie sind als Quadrate gezeichnet, so wie man sie von oben sieht (→ Fußnote 2). Und ich habe sie farbcodiert. Sie sind abwechselnd cyan und orange gezeichnet. Diese Unterscheidung wird uns bald nützlich sein.

Fußnote 2 : Mathematisch kann man die Ansicht in Bild 13 eine Projektion der Oktaeder auf die a–b–Ebene nennen.

An einem Oktaeder habe ich die 4 X–Ionen gezeichnet (rot, als Anklang an die häufig dort befindlichen Sauerstoff–Ionen), die in der Papierebene sind. Die anderen beiden (oben und unten) habe ich weggelassen, um die Zeichnung übersichtlich zu halten. Alle diese X–Ionen gehören zu zwei Oktaedern, und die Konsequenzen aus dieser Tatsache werden Sie bald kennen lernen.

Das Kippen, genau betrachtet. – Um die Situation übersichtlich zu halten, werde ich die Oktaeder nur um eine Achse kippen. In Bild 12 und den folgenden sind die Vorgänge am deutlichsten zu erkennen, wenn ich um die c–Achse kippe. In Bild 14 habe ich einen der orange gezeichneten Oktaeder aus Bild 13 (und zwar den mit den 4 eingezeichneten X–Ionen) nach rechts gedreht (Das Kippen ist ja eine Drehung.). Genau gesagt, ich habe ihn in Blickrichtung (die entlang der c–Achse verläuft) im Uhrzeigersinn gedreht, und zwar um 20°. Natürlich habe ich diese Drehung nur in Gedanken durchgeführt, um die erhaltene Struktur besser zu verstehen, die Stoffe in der Natur nehmen sofort die endgültige Struktur an.

Der eben gedrehte Oktaeder ist an Ion B fest mit einem Nachbar–Oktaeder verbunden, und zwar mit einem cyan gezeichneten. Dieser zweite Oktaeder dreht sich mit, und zwar in die entgegengesetzte Richtung, also im Gegenuhrzeigersinn. Der eben gezeichnete Oktaeder ist nicht nur am Atom B mit einem Nachbarn verbunden, sondern (in der sichtbaren Ebene, das heißt in einer Ebene, die parallel zur a–b–Ebene verläuft) noch mit 3 weiteren Oktaedern (von denen nur 2 gezeichnet sind). Alle diese 4 Oktaeder drehen sich (in Gedanken) gleichzeitig im Gegenuhrzeigersinn. Und weil der Kristall groß ist, geht es immer so weiter. Die Nachbarn der cyan gezeichneten Oktaeder (orange) drehen sich wieder im Uhrzeigersinn, deren Nachbarn im Gegenuhrzeigersinn. Alle Drehungen erfolgen konzertiert (gleichzeitig), und 2 benachbarte Oktaeder drehen sich immer in entgegengesetzte Richtungen. Das sind die beiden Eigenschaften des Kippens, die ich weiter oben erwähnt habe.

 

Neun Oktaeder, schematisch

Bild 15 : Das Ensemble aus 9 gekippten Oktaedern nimmt weniger Platz ein als die ungekippten in Bild 13. Berechnungen im Text.

Das Kippen, berechnet. – Die letzte Zwischenüberschrift heißt „Platz sparen”, und die gekippten Oktaeder in Bild 14 nehmen offensichtlich weniger Platz ein als die ungekippten. Aber wieviel weniger ? Das werde ich im folgenden berechnen.

Eines sollte schnell klar sein. Der Platzverbrauch der Oktaeder–Ensembles hängt vom Drehwinkel (Kippwinkel) ab. Ich nenne ihn α und benutze ab jetzt mathematisch gängige Bezeichnungen. Die Entfernung vom Mittelpunkt eines Oktaeders zu einer seiner Ecken nenne ich a.

Im ersten Schritt berechne ich das Volumen der Elementarzelle des (ungekippten) Perowskit–Strukturtyps. Sie sehen diese Elementarzelle gut in Bild 12. Dort erkennen Sie auch gleich, dass a die halbe Kantenlänge d der Elementarzelle ist.

d = 2 a

Für das Volumen V0 der Elementarzelle gilt

V0 = (2a)3 = 8a3 .

In Bild 15 ist ein Rechteck eingezeichnet, in dem 4 Oktaeder liegen. Es wird sich als praktisch erweisen, das Volumen von 4 Elementarzellen des ungekippten Perowskit–Typs zu berechnen. Es beträgt

4 V0 = 32a3 .

Im zweiten Schritt berechne ich das Volumen der Elementarzelle des Ensembles von gekippten Oktaedern. In Bild 15 ist ein Rechteck eingezeichnet, dass die Grundfläche der Elementarzelle darstellt. Wie groß ist es ?

Fußnote 3 : In der Schule lernt man diese Beziehungen oft unter dem Namen „Sinus am Einheitskreis” kennen.

Ich beginne mit dem cyan gezeichneten Oktaeder links oben im Rechteck in Bild 15. Sein Mittelpunkt ist M. Die Entfernung von M zu einem Eckpunkt ist a, so haben wir es vorhin definiert. In diesem Oktaeder habe ich ein Dreieck (rot) eingezeichnet. Eine seiner Seiten ist  a, die anderen beiden haben die Längen a ⋅ cos α (die längere) und a ⋅ sin α (die kürzere, unbeschriftet, → Fußnote 3). Das Lot von M auf eine Rechteckseite hat also die Länge a ⋅ cos α. Dasselbe Dreieck (gespiegelt) findet man noch viermal in Bild 15. Die senkrecht gezeichnete Rechteckseite hat also die Länge 4a ⋅ cos α.

Fußnote 3 : In der Schule lernt man diese Beziehungen oft unter dem Namen „Sinus am Einheitskreis” kennen.

Dieselbe Argumentation kann man auf die andere (waagrechte) Rechteckseite anwenden. Ergebnis : Auch ihre Länge ist 4a ⋅ cos α. Das Rechteck ist also ein Quadrat, sein Flächeninhalt A ist

A = (4a ⋅ cos α)2 = 16a2 (cos α)2 .

Ich habe die Oktaeder um eine Achse gedreht, die parallel zur c–Achse (des ungekippten Perowskit–Typs) ist. Diese Achse geht durch Spitze und Fuß (das sind die beiden in Bild 13 nicht gezeichneten Eckpunkte) des Oktaeders, und durch M. Sie bleibt beim Kippen unverändert, und damit bleibt auch die Höhe des Oktaeders unverändert. Sie beträgt 2a. Für das Volumen V1 der Elementarzelle (die 4 gekippte Oktaeder enthält) erhält man

V1 = 2a ⋅ 16a2 (cos α)2 = 32a3 (cos α)2 .

V1 ist also immer kleiner als V0, denn die Werte der Cosinusfunktion liegen immer zwischen 1 und –1.

Schnell sehen Sie auch, dass das Volumen V1 vom Drehwinkel α abhängt. Eine kleine Tabelle zeigt mehr.

Bei einem Drehwinkel von 0° bleiben die Oktaeder ungedreht und ungekippt, der Perowskit–Typ bleibt bestehen, und V1 ist V0.

Der maximale Drehwinkel ist 45°. Würde man weiter drehen (zum Beispiel um 50°), wäre es einfacher, in die entgegengesetzte Richtung (dann um 40°) zu drehen, um das gleiche Ergebnis zu erhalten. Die maximale Schrumpfung der Elementarzelle durch Kippen beträgt somit 50 %.

In der Realität kommen meist kleine Drehwinkel vor. Der im Beispiel benutzte Drehwinkel von 20° ist schon ungewöhnlich groß. Ich habe ihn benutzt, weil Sie hier die Änderungen sehr deutlich sehen können.

Bedenken sollte man, dass die Oktaeder (weiter vorn als stabile Bausteine benannt) unverändert bleiben. Die Verkleinerung der Elementarzelle geschieht also ausschließlich auf Kosten des Nicht–Oktaeder–Teils. Dieser Teil sieht in Bild 14 relativ klein aus, ist es aber nicht. Bild 14 zeigt einen Querschnitt durch die Elementarzelle dort, wo die Oktaeder am dicksten sind, nämlich auf halber Höhe, in einer Ebene durch 4 Ionen. Tatsächlich nehmen sie genau ein Sechstel der Elementarzelle ein. Nur die restlichen fünf Sechstel sind vom Schrumpfen betroffen.

 

Oktaeder, schematisch

Bild 16 : In der Nachbarebene können die Oktaeder, im Vergleich zur ersten Ebene, gleichsinnig gedreht sein oder gegensinnig. Hier ist der zweite Fall realisiert.

Das Kippen, ebenenübergreifend. – Bis jetzt waren alle Oktaeder in derselben Ebene. Doch was ist mit den Ebenen über und unter der betrachteten Ebene ? Welche Auswirkungen hat das Drehen (Kippen) der Oktaeder in einer Ebene auf die Oktaeder in den beiden Nachbarebenen ?

Alle Oktaeder wurden um eine Drehachse gedreht. Sie geht durch den Mittelpunkt M jedes Oktaeders, außerdem durch 2 Punkte, die man, bezogen auf die Ebene der Oktaeder, Spitze und Fuß des Oktaeders nenen kann, denn diese beiden Punkte liegen am oberen und am unteren Rand der Ebene. Betrachtet man nur einen einzelnen Oktaeder, so bleibt die Drehachse beim Drehen unverändert. Das ist eine Eigenschaft von Drehachsen. Betrachtet man dagegen die Gesamtheit der Oktaeder in der Ebene, sieht man, dass die Drehachsen zusammenrücken.

Jeder Oktaeder berührt an jeder seiner 6 Ecken einen anderen Oktaeder. Sie sehen das gut in Bild 9. Er berührt also, genauso wie in den Punkten A und B und den zwei anderen rot markierten Ecken in Bild 13, auch an den Punkten, die ich eben Spitze und Fuß genannt habe, andere Oktaeder, die nun in den Ebenen über und unter der gegebenen Ebene liegen.

Damit ist eine Bedingung formuliert, die die Oktaeder in den Nachbarebenen erfüllen müssen. Die Spitz– und Fußpunkte der Oktaeder müssen an denselben Stellen sein wie die Spitz– und Fußpunkte der gegebenen Ebene. Und wenn man viele Ebenen betrachtet, heißt das, alle Spitz– und Fußpunkte aller Ebenen müssen an denselben Stellen liegen, denn es sind nun die Verbindungsstellen der Ebenen.

Eine Möglichkeit, diese Bedingung zu erfüllen, ist, dass sich die Oktaeder in den Nachbarebenen genauso drehen wie in der betrachteten Ebene, denn dann passen alle Verbindungsstellen zusammen. Man nennt solche Drehungen gleichsinnig (engl. in phase). Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit. Die Oktaeder können sich in 2 Nachbarebenen in entgegengesetzte Richtungen drehen, natürlich um denselben Drehwinkel. Es resultiert dieselbe Volumenverkleinerung, und wieder passen alle Verbindungsstellen zusammen. Bild 16 zeigt diese zweite Möglichkeit. Man nennt solche Drehungen gegensinnig (engl. out of phase).

Das Kippen, mehrachsig. – Bis jetzt habe ich die Oktaeder nur um eine einzige Achse gedreht (gekippt), denn nur in diesem Fall kann man die Veränderungen in der Kristallstruktur mit einfachen Mitteln berechnen.

Natürlich kann man die Oktaeder auch, nachdem man sie um eine Achse gedreht hat, noch um eine weitere Achse, und wenn man will, auch um die dritte Achse drehen. Die mathematische Behandlung solcher Drehungen ist möglich, aber anspruchsvoll, und ich denke, das Ergebnis steht in keinem guten Verhältnis zum Aufwand. Daher verzichte ich in diesem Projekt auf Drehungen um mehrere Achsen. Jedoch können Sie in den Beispielen die Kristallstruktur einiger Stoffe ansehen, bei denen die Oktaeder (natürlich wieder in Gedanken) nacheinander um mehrere der Koordinatenachsen gedreht wurden.

Das Kippen, dynamisch. – In Kristallen sitzen die Atome und Ionen an festen Plätzen. Das ist eine unumstößliche Wahrheit, in Stein gemeißelt. So dachten lange Zeit alle, und so bekommt man es wohl auch heute noch in der Schule oder den ersten Semestern erklärt. Und meist ist das ja auch richtig. Aber nicht immer.

Die Natur hält eine Menge Überraschungen für uns bereit. Hier ist eine. In Kristallen sitzen die Atome und Ionen nicht immer an festen Plätzen. Und ich meine nicht die thermische Bewegung (→ Kapitel 3.7.5.) der kleinsten Teilchen, von der man schon früh wusste, und die man schon lange berücksichtigt hat.

mehrere Oktaeder

Bild 17 : Ein Oktaeder (orange gezeichnet) einer gekippten Perowskit–Struktur wechselt in kurzen Zeitabständen seine tatsächliche Lage zwischen den beiden, übereinander gelegten Ansichten. Man nennt sein Verhalten dynamisch. Der blaue Nachbar (und alle weiteren Nachbarn) muss ihm schnell folgen – oder der orange Oktaeder wechselt wieder in die vorige Lage.

Sehen Sie sich dazu noch einmal Bild 16 an. Dort sind Oktaeder aus zwei Ebenen gezeichnet. Die orange gezeichneten Oktaeder sind gegenüber denen aus Bild 13 in der einen Ebene nach rechts gedreht, in der anderen nach links. Die unterschiedlichen Drehungen sind also räumlich getrennt. Ist es vorstellbar, dass dieselben unterschiedlichen Drehungen zeitlich getrennt stattfinden ?

Ja, das ist vorstellbar, und, mehr noch, das gibt es tatsächlich. Ein Oktaeder nimmt (zum Beispiel) zu einem bestimmten Zeitpunkt die nach links gedrehte Lage ein, und nach einer gewissen Zeitspanne wechselt er in die nach rechts gedrehte Lage. Man nennt diesen Vorgang dynamisches Kippen (engl. dynamic tilting).

In Bild 17 können Sie 4 Oktaeder erkennen. Je 2 sind übereinander geblendet. Die beiden orangen Oktaeder, die fast am gleichen Platz sind, stellen also 2 Lagen eines einzigen Oktaeders dar, die er zu verschiedenen Zeitpunkten einnimmt. Mal ist der reale Oktaeder an der Stelle des einen, dann an der Stelle des anderen orange gezeichneten Oktaeders. Er wechselt im Lauf der Zeit zwischen den beiden Positionen, nie ist er gleichzeitig an beiden. Dasselbe gilt für die beiden blau gezeichneten Oktaeder.

Fußnote 4 : Der Begriff „kühne Vermutung” stammt aus der Wissenschaftstheorie. Das ist das Teilgebiet der Philosophie, das sich damit befasst, wie in den Naturwissenschaften Erkenntnisse gewonnen werden. Die Idee der kühnen Vermutung wurde von Karl R. Popper aufgestellt. Er benutzt es für Behauptungen, die neu und noch nicht begründet sind, und die ein großes Risiko tragen, falsifiziert (widerlegt) zu werden. Solche Vermutungen sieht er (wenn sie nicht falsifiziert werden können) als wesentlichen Baustein für wissenschaftlichen Fortschritt. Seine Denkrichtung heißt Falsifikationismus, und auch wenn sie heute als überholt angesehen wird, ist sie doch eine wichtige Stufe des Verständnisses von Erkenntnisprozessen. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in L–70.

Gibt es Einwände gegen diese kühne Behauptung ? (→ Fußnote 4) Wie immer, ja. Die erste Frage ist, wie kommen die Oktaeder von dem einen zum anderen Zustand. Dazu wird Energie benötigt, denn zwischen den beiden Zuständen ist ein energiereicher Zwischenzustand, der überwunden werden muss. Die benötigte Energie ist Aktivierungsenergie, oft spricht man auch von einer Energiebarriere, die durch die Aktivierungsenergie überwunden werden muss. Der energiereiche Zwischenzustand ist umso energiereicher, je größer der Drehwinkel ist, denn bei größerem Drehwinkel hat die Elementarzelle eine größere Schrumpfung (vergleiche dazu die kleine Tabelle weiter oben), und es ist schwieriger für die Oktaeder, sich aneinander vorbeizuquetschen. Dynamisches Kippen wird also bevorzugt bei kleinen Kippwinkeln auftreten. Der energiereiche Zwischenzustand kann umso leichter überwunden werden, je mehr Energie vorhanden ist. Dynamisches Kippen wird also bevorzugt bei hohen Temperaturen auftreten.

Fußnote 4 : Der Begriff „kühne Vermutung” stammt aus der Wissenschaftstheorie. Das ist das Teilgebiet der Philosophie, das sich damit befasst, wie in den Naturwissenschaften Erkenntnisse gewonnen werden. Die Idee der kühnen Vermutung wurde von Karl R. Popper aufgestellt. Er benutzt es für Behauptungen, die neu und noch nicht begründet sind, und die ein großes Risiko tragen, falsifiziert (widerlegt) zu werden. Solche Vermutungen sieht er (wenn sie nicht falsifiziert werden können) als wesentlichen Baustein für wissenschaftlichen Fortschritt. Seine Denkrichtung heißt Falsifikationismus, und auch wenn sie heute als überholt angesehen wird, ist sie doch eine wichtige Stufe des Verständnisses von Erkenntnisprozessen. Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in L–70.

Der zweite Einwand lautet, ein Oktaeder kann nicht allein kippen, es muss immer eine gemeinsame Bewegung aller Oktaeder stattfinden. Das habe ich schon weiter oben gesagt, und es ist im Grunde richtig. Dass der Kippvorgang eine gewisse Zeitspanne, sei sie auch noch so kurz, braucht, ist auch richtig. Kippt ein Oktaeder von dem einen in den anderen Zustand, so kann es sein, dass er sofort wieder zurückkippt (der häufigste Fall, weil die Nachbarn nicht mitspielen), oder dass er seine Nachbarn mitzieht, und die wieder ihre Nachbarn, und immer so weiter, bis alle Oktaeder die Zustandsänderung vollzogen haben.

Das dynamische Kippen blieb lange unentdeckt. Der Grund ist einfach zu verstehen. Eine Standardmethode zur Aufklärung der Struktur von Kristallen ist die Röntgenstrukturanalyse. Dabei bestrahlt man den Kristall eine zeitlang (Minuten oder länger) mit Röntgenstrahlen und wertet aus, wie diese gebeugt (durch Wechselwirkung mit den Elektronen des Kristalls in ihrer Richtung verändert) werden. Bleibt die Struktur des Kristalls länger als die Messdauer unverändert, erhält man eine exakte Beschreibung. Ändert sich die Kristallstruktur während der Messung, erhält man den Mittelwert über die Strukturen, die während des Messvorgangs vorhanden waren.

Was bedeutet das für Perowskit–Strukturen, in denen dynamisches Kippen auftritt ? Die beiden Lagen des orange gezeichneten Oktaeders in Bild 17 treten gleich lange auf. Ihr Mittel ist der ungekippte Oktaeder, und so hat man dynamisch gekippten Strukturen als ungekippte Strukturen falsch interpretiert. Falsch interpretiert ? Können die Forschenden ihre Arbeit nicht richtig machen ? Nun ja. Lange ging man von einer statischen Natur von Kristallen aus und hat die Möglichkeit von dynamischen Prozessen in Kristallen (abgesehen von thermischen Schwingungen) gar nicht in Betracht gezogen.

Mehr über dynamische Prozesse in Kristallen erfahren Sie in Kapitel 7.5. – demnächst.

Mehr über das dynamische Kippen erfahren Sie in einem Open–Access–Artikel aus dem Jahr 2023 (L–285).

Das Kippen, seine Gründe. – Der erste Grund ist rein geometrisch. Die A–Ionen (in der Formel ABX3) können zu klein sein, um die Lücken zwischen den Oktaedern aus B– und X–Ionen auszufüllen. Sehen Sie sich noch einmal Bild 11 an. Die A–Ionen sind hier Strontium–Ionen, und die sind ziemlich groß. Bei kleineren Ionen wird sich das System so verändern, dass die Oktaeder geringeren Abstand zueinander haben (denn da passen die kleinen A–Ionen immer noch in die Lücken), und das geht am einfachsten durch Kippen.

Der zweite Grund sind die Bindungsverhältnisse. In den Stoffen, die im Perowskit–Strukturtyp kristallisieren, sind Metalle und Nichtmetalle vorhanden. Gewohnheitsmäßig sieht man die Bindung zwischen ihnen als Ionenbindung an. Jedoch ist das oft eine zu starke Vereinfachung. Berücksichtigt man die Elektronegativität der Beteiligten, wird klar, dass oft nur (mehr oder weniger stark) polare Atombindungen (→ Kapitel 5.5.) vorliegen. Das Zusammenspiel ionischer und kovalenter Bindungsanteile und die Auswirkungen auf die Struktur sind für die einzelnen Ionen unterschiedlich und können nur mit quantenmechanischen Methoden erklärt werden – nicht in diesem Projekt.

Immer hat das System (der Kristall) die niedrigste Freie Enthalpie (→ Kapitel 4.1.7.), und es wird immer die Struktur (Perowskit–Typ oder etwas ganz anderes, ungekippt oder gekippt) annehmen, in der die Freie Enthalpie minimal ist (→ Kapitel 4.1.7.2.). Diese minimale Freie Enthalpie wird bei manchen Stoffen, abhängig von der Temperatur, durch verschiedene Kristallstrukturen realisiert. Entsprechend finden bei solchen Stoffen bei Erwärmung ein oder mehrere Phasenwechsel statt (das heißt, der Stoff geht in eine andere Modifikation über). Ein extremes Beispiel ist Natriumniobat (NaNbO3), von dem man 5 Modifikationen kennt – bisher, wer weiß, was noch kommt. Mehr über Natriumniobat erfahren Sie weiter unten.

Beispiele – zu Perowskit–Strukturen mit gekippten Oktaedern
Calciumtitanat-Kristall

Blick in Richtung der a–Achse

Calciumtitanat-Kristall

Blick in Richtung der b–Achse

Calciumtitanat-Kristall

Blick in Richtung der c–Achse

Bild 18 : Tetragonale Modifikation von Calciumtitanat. Die Kristallstruktur wird aus den Richtungen der 3 Koordinatenachsen gezeigt. Die TiO6–Oktaeder sind massiv hervorgehoben. Farbcodierung : Calcium, Titan, Sauerstoff. Daten aus L–286. Bildnachweis.

Erstes Beispiel – Calciumtitanat (CaTiO3) in der tetragonalen Modifikation. – Bei allen Erklärungen zum Kippen von Oktaedern habe ich die Oktaeder immer nur um eine der 3 Koordinatenachsen gekippt. Beim ersten Beispiel wird es daher um einen Stoff gehen, bei dem die Oktaeder (es sind TiO6–Oktaeder) des Perowskit–Strukturtyps nur um eine Achse gekippt sind.

Solche Beispiele sind nicht allzu häufig. Eines davon ist Calciumtitanat mit der Formel CaTiO3. Als Mineral hat es den Namen Perowskit, ist also der Namensgeber des gesamten Strukturtyps.
Aber – Achtung Falle. Hier stelle ich nicht den Perowskit in der Form vor, die er bei Raumtemperatur hat, sondern in einer anderen. Sie heißt tetragonale Modifikation und ist nur im Bereich von 1239 °C bis 1363 °C stabil, also in einem eher kleinen Bereich bei hoher Temperatur. Der Grund ist, dass beim Calciumtitanat nur in dieser Modifkation die Oktaeder um nur eine Achse gekippt sind.

Bild 18 zeigt die Kristallstruktur der tetragonalen Modifikation aus den Richtungen der 3 Koordinatenachsen. Die Elementarzelle in tetragonalen Systemen ist ein Quader. Die Koordinatenachsen und damit die Richtungen, aus denen Sie die Struktur in Bild 18 sehen, stehen also senkrecht aufeinander. Ich werde diese 3 Ansichten genau analysieren und überprüfen, ob sie mit dem übereinstimmen, was ich bisher über Perowskit–Strukturen gesagt habe, bei denen die Oktaeder um nur eine Achse gekippt sind.

Die Ansichten zeigen einen größeren Ausschnitt der Kristallstruktur als weiter vorn. Bisher waren maximal 4 Oktaeder zu sehen, nun sind es über 70. So sehen Sie die Regelmäßigkeiten im Aufbau und die Symmetrien deutlicher. Vielleicht denken Sie, außer Oktaedern ist fast nichts zu sehen. Ja, das ist so, ich habe die Oktaeder massiv in den Vordergrund gestellt. Außer den Oktaedern sehen Sie rot gezeichnete Sauerstoff–Ionen (an den Oktaederecken), mattviolett gezeichnete Calcium–Ionen (zwischen den Oktaedern, auch wenn es manchmal nicht so aussieht), und selten blau gezeichnete Titan–Ionen (die meisten sind in den Okatedermittelpunkten verborgen).

Im ersten Teil von Bild 18 blicken Sie in Richtung der a–Achse auf die Szene. Um genau zu sein, es ist nicht ganz exakt diese Richtung. Die Blickrichtung weicht ein wenig ab, denn dann sehen Sie Oktaeder, die eigentlich hintereinander sind, als Reihe. Alle Oktaeder stehen aufrecht. Die Spitzen sind genau über den Fußpunkten. Eine Kante verläuft immer genau waagrecht. Das ist, was wir erwarten, denn die Oktaeder sind nur um die c–Achse gedreht. An den Ecken der Oktaeder sind Sauerstoff–Ionen (rot). Auch das haben wir erwartet. An den Spitzen und Fußpunkten scheinen keine Sauerstoff–Ionen zu sein, sondern Calcium–Ionen (mattviolett). Da hat uns aber nur die Perspektive einen Streich gespielt. Zwischen 2 Sauerstoff–Ionen sind immer wieder Calcium–Ionen (vgl. Bilder 7 bis 11), die nun die kleinen Sauerstoff–Ionen verdecken.

Bis hier ist die Beschreibung analog der des normalen Perowskit–Typs. Wir haben Oktaeder nur um die c–Achse gedreht, da bleibt das eben so. Die Veränderungen kommen nun.

Mehrfach sehen Sie Reihen von fast hintereinander liegenden Oktaedern, und immer sind es 3. Betrachten Sie mehrere solcher Reihen, sehen Sie, dass die Oktaeder unterschiedliche Hell–Dunkel–Verteilungen haben. Nebeneinanderliegende Reihen haben immer unterschiedliche Verteilungen. Grund ist, dass die Oktaeder (vgl. Bild 14) in unterschiedliche Richtungen gedreht wurden, und nun fällt die Beleuchtung unterschiedlich darauf. Mal sieht man eine Fläche im Licht, dann im Schatten. Übereinanderliegende Reihen haben ebenfalls, immer abwechselnd, unterschiedliche Hell–Dunkel–Verteilungen. Grund ist, dass in der tetragonalen Modifikation von Calciumtitanat die Oktaeder benachbarter Schichten gegensinnig (engl. out of phase) gedreht sind.

Die Übereinstimmung zwischen Erwartung und Realität ist bis jetzt perfekt.

Beim zweiten Teil von Bild 18 kann ich mich kürzer fassen. Die Elementarzelle des Perowskit–Strukturtyps ist sehr symmetrisch, und solange ich einzelne Elemente der Zelle nur um die c–Achse drehe, ändert sich an den Ansichten in Richtung der a– und der b–Achse nichts. Zwischen dem ersten und dem zweiten Teil von Bild 18 gibt es also keinen Unterschied.

Betrachten wir nun den dritten Teil von Bild 18. Es zeigt eine Ansicht in Richtung der c–Achse (wie vorher mit einer kleinen Abweichung). Legt man die Elementarzelle so in den Raum wie in den meisten Bildern dieses Abschnitts, ist es eine Ansicht von oben.

Zu erwarten ist eine Ansicht ähnlich Bild 14. Auf den ersten, schnellen Blick scheint es, die Oktaeder sind, wie in Bild 13, nicht gedreht. Sieht man genauer hin, erkennt man die vorhandene Drehung. Sie ist klein, nur etwa 5° (bei 1325 °C, L–287). Und die Oktaeder sind gleichsinnig (in phase) gedreht. Das ist nicht die in Bild 16 gezeigte Möglichkeit, sondern die im zugehörigen Text beschriebene Alternative.

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Demnächst bearbeite ich diesen Abschnitt weiter.

Es kann aber noch etwas dauern.

 

 

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