10.5. Die kleinsten Teilchen in Gasen

Hier geht es um die Konstitution der kleinsten Teilchen in Gasen. Es geht darum, ob es Atome, Moleküle oder Ionen sind, aus welchen Atomen die Moleküle und Ionen aufgebaut sind, und welche Bindungen zwischen den Atomen verlaufen.

Außerdem geht es um deren Konformation. Mehr über Konformation erfahren Sie in Kapitel xxx.

Vielleicht wird einges von dem, was Sie in diesem Abschnitt lesen, Ihre Erfahrungen bestätigen, während Sie von anderem überrascht sein werden.

Im folgenden fasse ich mehrere große Klassen von Stoffen mit ähnlichem Verhalten zusammen, gefolgt von einzelnen, bemerkenswerten Verbindungen.

Im einzelnen geht es um die folgenden Stoffgruppen.

10.5.1. Edelgase

Alle Edelgase kommen im gasförmigen Zustand, genauso wie im festen und flüssigen, in Form einzelner Atome vor. Zwischen den Atomen gibt es nur sehr geringe Wechselwirkungen. Es sind ausschließlich Dispersionskräfte (mehr darüber in Kapitel 5.9).

Edelgase im gasförmigen Zustand kommen dem Modell des idealen Gases am nächsten.

2 Argon-Atome

Bild 1 : Gasförmiges Argon, Ausschnitt eines Systems, 2 Atome umfassend, schematisch.

Bild 1 zeigt einen Ausschnitt aus einem System, das aus gasförmigen Argon besteht. Erscheint es Ihnen langweilig ? Nun ja, 2 in einigem Abstand aneinander vorbei fliegende Atome sind wirklich kein großes Ereignis.

Ist Bild 1 realistisch ? Ist der Abstand der beiden gezeichneten Atome, zumindest annähernd, so groß wie der Abstand von Atomen in Argon bei Raumtemperatur ?

Die Dichte von festem Argon und gasförmigem Argon bei Raumtemperatur unterscheidet sich, grob gesagt, etwa um den Faktor 1000. Der Abstand zwischen 2 Argon–Atomen sollte sich also etwa um den Faktor 10 unterscheiden. In festem Argon liegen die Atome direkt nebeneinander. In gasförmigen Argon sollte zwischen 2 Atomen im Mittel ein Abstand von etwa 10 Atomdurchmessern sein. Im Bild beträgt er nur 5 Atomdurchmesser. Eine solche Abweichung vom Durchschnitt kommt häufig vor, und man kann die Darstellung in Bild 1 mit Recht als realistisch bezeichnen. Dazu kommt, dass uns vielleicht die Perspektive einen Streich spielt. Nirgendwo wird gesagt, dass wir senkrecht auf die Verbindungslinie der 2 Atome blicken. Vielleicht ist das eine ja, in Blickrichtung gesehen, halb neben, halb hinter dem anderen, und ihr wirklicher Abstand ist 12 oder 15 Atomdurchmesser.

10.5.2. Stoffe aus Molekülen

In diesem Abschnitt soll es um eine sehr große und vielfältige Gruppe von Stoffen gehen. Es sind Stoffe, die im festen und im flüssigen Zustand Moleküle bilden.

Dazu gehören

2 Schwefeldioxid-Moleküle

Bild 2 : Gasförmiges Schwefeldioxid, Ausschnitt eines Systems, 2 Moleküle umfassend, schematisch.

2 Ethanol-Moleküle

Bild 3 : Gasförmiges Ethanol, Ausschnitt eines Systems, 2 Moleküle umfassend, schematisch.

Die Konstitution dieser Stoffe im gasförmigen Zustand ist leicht zu beschreiben. Es sind dieselben Moleküle wie im festen und flüssigen Zustand vorhanden.

Die Wechselwirkungen zwischen diesen Molekülen habe ich bereits in Kapitel 10.3. beschrieben. Bild 2 zeigt 2 Moleküle Schwefeldioxid (SO2), die zu weit voneinander entfernt sind, um nennenswerte Wechselwirkungen zu zeigen. Im Gegensatz dazu zeigt Bild 3 ein seltenes Ereignis. Es ist ein Ausschnitt aus einem System, das gasförmiges Ethanol enthält, und 2 Ethanol–Moleküle haben sich so weit angenähert, dass sie sich in unmittelbarer Nachbarschaft befinden. Mehr noch, auch ihre Orientierung ist so, dass sich das Sauerstoffatom des einen (im Bild oben gezeichneten) Moleküls direkt neben dem Wasserstoffatom der OH–Gruppe des anderen befindet. In dieser Situation treten tatsächlich Wechselwirkungen auf, und die beiden Moleküle bleiben eine zeitlang (vielleicht ein paar Milliksekunden) zusammen, bis sie sich, verursacht durch die thermische Bewegung der beteiligten Atome, wieder trennen.

Konformation

Nun aber zu dem im vorigen Abschnitt angekündigten Thema, der Konformation der Moleküle in einem Gas.

Alle Moleküle in einem Gas besitzen innere Energie. Die Auswirkungen der inneren Energie auf das Verhalten der Moleküle habe ich bereits in Kapitel 4.1.2. beschrieben. Einmal bewirkt sie Translationen und Rotationen der Moleküle, das heißt, die Moleküle fliegen im Gas umher oder drehen sich wie ein Kreisel. Dann bewirkt sie Schwingungen verschiedenster Art, unter anderem Streck– und Biegeschwingungen, das heißt, die Länge der Bindungen oder die Winkel zwischen den Bindungen ändern sich. Komplexer gebaute Moleküle werden auch komplexe Schwingungen ausführen. In Kapitel 4.1.2. habe ich die Inversion des Ammoniakmoleküls und die Umwandlung von Cyclohexan von der Sessel– in die Wannenform erwähnt.

Bei vielen Molekülen liegt freie Drehbarkeit um eine Einfachbindung vor. Das heißt, ein Teil eines Moleküls kann sich um eine Bindung (das bekannteste Beispiel ist die C–C–Einfachbindung) drehen, während der andere unverändert bleibt. In Kapitel xxx habe ich ausführlich über diese Erscheinung geschrieben, und ich habe dort auch an einigen Beispielen den Energieunterschied zwischen den Konformationen veranschaulicht.

Alle in den vorigen 2 Absätzen genannten Phänomene (ausgenommen Translation und Rotation) führen zu unterschiedlichen Formen des Moleküls, und diese heißen Konformere. Die Konformere eines Moleküls unterscheiden sich in ihrem Energiegehalt. Einige haben eine höhere, andere eine niedrigere Energie.

Die Frage ist nun, welche Konformere in Gasen auftreten.

Nicht alle Moleküle des Systems besitzen gleichviel innere Energie. Durch Stöße zwischen den Molekülen wird zwischen ihnen Energie ausgetauscht. Je nachdem, wie solch ein Stoß abläuft (zentral oder an der Peripherie, mit Drall, mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Moleküle) kann Energie von einem Molekül auf ein anderes übertragen werden. Nach sehr vielen Stößen wird es unter den Molekülen Gewinner geben, die viel Energie besitzen, und Verlierer, die nur noch eine geringe Energie haben. Jedoch werden die meisten Moleküle eine im mittleren Bereich liegende Energie haben, und es wird nur wenige extreme Gewinner und Verlierer geben.

Entsprechend ist zu erwarten, dass viele Moleküle Konformationen mit mittlerer Energie annehmen. Nur wenige werden sehr energiearme Konformationen besitzen, und ebenfalls nur ganz wenige solche mit sehr hoher Energie. Hat das Gesamtsystem eine niedrige Energie (niedrige Temperatur, niedriger Druck), wird der Anteil energiearmer Konformere höher sein, und umgekehrt.

10.5.3. Stoffe aus Ionen

In diesem Abschnitt soll es um Stoffe gehen, die im festen oder im flüssigen Zustand aus Ionen bestehen. Eines der bekanntesten Beispiele solcher Stoffe ist Natriumchlorid (Kochsalz, NaCl).

Die erste Frage ist, woraus diese Stoffe im gasförmigen Zustand bestehen. Sind es auch Ionen ? Oder sind es Moleküle ? Oder noch andere Einheiten ?

Ein naiver Gedankengang

Man erhitzt Natriumchlorid über seinen Siedepunkt (ca. 1465 °C). Welche Teilchen könnten bei diesem Vorgang entstehen ? An dieser Stelle, ohne weitere Kenntisse, können wir natürlich nur spekulieren. Vielleicht entstehen Natrium–Ionen (Na+) und genauso viele Chlor–Ionen (Cl). Werden diese unabhängig voneinander herumfliegen ? Eher nicht.

Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ladungen werden sich Natriumionen und Chlorionen anziehen. Vielleicht entsteht ein Paar aus einem Natriumion und einem Chlorion. Dieses Paar ist, als Ganzes gesehen, elektrisch neutral. Jedoch wird es an einer Stelle (beim Na–Teilchen) eine positive Teilladung besitzen und gegenüber (beim Cl–Teilchen) eine negative. Weitere Ionen können sich anlagern.

Vielleicht haben Sie in der Schule oder in den ersten Semestern des Studiums eine solche oder ähnliche Beschreibung schon einmal gehört. Die Anlagerung von Teilchen führte damals immer weiter, bis zum Ionenkristall. Aber jetzt sind wir über dem Siedepunkt. Die thermischen Schwingungen sind zu stark, als dass sich dauerhafte Bindungen in größerer Zahl bilden können. Was also passiert tatsächlich ?

Viele Forschende haben sich mit dieser Frage beschäftigt und viele Stoffe untersucht. Einige Ergebnisse stelle ich im Folgenden vor. Ein Übersichtsartikel zu diesem Thema ist Lit. L–276. Aus diesem Artikel sind auch die Informationen zu den folgenden Beispielen entnommen.

10.5.3.1. Natriumchlorid (NaCl)

Gasförmiges Natriumchlorid enthält (über seinem Siedepunkt, er beträgt etwa 1465 °C) mehrere Arten von Molekülen.

Natriumchlorid-Molekül, monomer

Bild 4 : Natriumchlorid–Molekül, monomer, Formel NaCl.

Den größten Anteil haben Moleküle, die aus einem Natrium–Teilchen und einem Chlor–Teilchen bestehen. Ihre Formel ist NaCl (→ Fußnote 1), und da es jeweils nur ein Teilchen ist, heißen sie Monomere. Bild 4 zeigt ein solches Monomer.

Fußnote 1 : Diese Formel sieht genauso aus wie die Formel der festen Ionenverbindung NaCl, besagt aber etwas ganz anderes. Mehr Informationen dazu finden Sie in Kapitel 3.8.3.

 

Natriumchlorid-Molekül, dimer

Bild 5 : Natriumchlorid–Molekül, dimer, Formel Na2Cl2.

Einen geringeren Anteil, der in Lit. L–276 (auf S. 43) als "considerable" (erheblich, bedeutend) eingestuft wird, nehmen Dimere ein. Das sind Moleküle, die aus 2 Natrium–Teilchen und 2 Chlor–Teilchen bestehen. Ihre Formel ist Na2Cl2. Die Natriumchlorid–Dimeren haben die Form eines Rhombus (Raute). So formuliert man es häufig, und man meint damit, dass die enrgieärmste Form des Dimeren ein Rhombus ist, und dass er eben ist. Über dem Siedepunkt ist aber genug Energie vorhanden, dass Moleküle vielerlei Schwingungen ausführen können. Das Dimer in Bild 5 ist fast quadratisch, und die 4 Atome bilden keine Ebene mehr.

 

Natriumchlorid-Molekül, trimer

Bild 6 : Natriumchlorid–Molekül, trimer, Formel Na3Cl3.

Natriumchlorid-Molekül, tetramer

Bild 7 : Natriumchlorid–Molekül, tetramer, Formel Na4Cl4.

Weitere Bestandteile gasförmigen Natriumchlorids sind Trimere (zu geringen Anteilen) und Tetramere (zu noch geringeren Anteilen). Die Trimere (Na3Cl3) bilden einen Sechsring, die Tetrameren (Na4Cl4) haben Würfelform (Bilder 6 und 7).

Warum bilden sich diese Moleküle ? Der naive Gedankengang von vorhin war zwar naiv, aber doch im Kern richtig. Elektrostatische Anziehungskräfte (Coulomb–Kräfte) bewirken die Bildung des Monomeren. Dieselben Kräfte bewirken weitere Anlagerung von Ionen an die Stellen mit entgegengesetzter Ladung. Es entstehen Dimere und größere Einheiten.

Thermische Schwingungen bewirken das Aufbrechen der Bindungen in Dimeren und größeren Einheiten. Diese zerfallen zu kleineren Einheiten. Es liegt ein dynamisches Gleichgewicht vor, Einheiten zerfallen und bilden sich neu.

Kann man den Anteil von Monomeren, Dimeren, Trimeren und Tetrameren quantitativ angeben ? Diese Anteile hängen von der Temperatur ab. Je höher die Temperatur, umso stärker sind die thermischen Schwingungen, und umso stärker ist der Zerfall größerer Einheiten. Je höher die Temperatur, umso mehr dominieren die Monomeren. Größere Einheiten haben nur bei niedrigen Temperaturen (gemeint sind solche knapp über dem Siedepunkt) gute Überlebenschancen.

Zahlenwerte zu den Anteilen habe ich nicht gefunden.

Gibt es größere Einheiten als Tetramere ? Im Prinzip ja, aber ...

Die Temperatur gasförmigen Natriumchlorids kann nicht unter den Siedepunkt fallen, und größere Einheiten werden aufgrund der thermischen Schwingungen schnell zerfallen. Es werden nur so wenige sein, dass man sie nicht nachweisen kann.

Gibt es einzelne Ionen ? Isolierte Natrium– und Chlorionen (das sind solche, die, ohne sich zu verändern, über längere Zeit einzeln „für sich” im Gas umherfliegen) sind erst bei viel höheren Temperaturen vorhanden.

10.5.3.2. Calciumfluorid (CaF2) und Calciumchlorid (CaCl2}

Calciumfluorid und Calciumchlorid stehen hier stellvertretend für die Halogenide der Erdalkalimetalle.

Calciumfluorid-Molekül, monomer

Bild 8 : Calciumfluorid–Molekül, monomer, Formel CaF2.

Calciumfluorid-Molekül, dimer

Bild 9 : Calciumfluorid–Molekül, dimer, schematisch, Formel Ca2F4.

Calciumchlorid-Molekül, monomer

Bild 10 : Calciumchlorid–Molekül, monomer, Formel CaCl2.

Monomere und mehr. – Die Halogenide der Erdalkalimetalle bestehen im gasförmigen Zustand zum größten Teil aus Monomeren, jedoch können auch Dimere vorhanden sein. Ihr Anteil wird bei den Calciumhalogeniden in Lit. L–276 (ab Seite 52) mit wenigen Prozent angegeben.

Geometrie. – Eine Frage, die länger diskutiert wurde, ist die nach der Form der Monomeren, und damit ist die Form bei möglichst niedriger Energie gemeint. Sind die Moleküle linear oder gewinkelt ?

Die Antwort des VSEPR–Modells (→ Kapitel 6.1.1.) lautet, sie sind linear. Tatsächlich sind die Moleküle einiger Erdalkalihalogenide linear, die von anderen gewinkelt. Je größer und damit polarisierbar die Metallionen sind, und je kleiner und damit elektronegativer die Halogenidionen sind, umso mehr wird die gewinkelte Form bevorzugt.

Die Moleküle in den Bildern 8 bis 10 sind farbcodiert.
Calciumionen sind mittelblau.
Fluorionen sind cyan. Chlorionen sind grün.

Bild 10 zeigt ein Calciumchlorid–Molekül (Monomer). Es ist linear. Bild 8 zeigt ein Calciumfluorid–Molekül (Monomer). Es ist gewinkelt, mit einem Winkel zwischen den beiden Bindungen von etwa 140°. Auch das Dimer von Calciumfluorid in Bild 9 ist gewinkelt, es geht nicht anders.

Anmerkung. – Die Monomeren der Erdalkalihalogenide führen (wie auch alle anderen Moleküle) im gasförmigen Zustand thermische Schwingungen aus. Bei den dort vorhandenen hohen Temperaturen haben die Schwingungen eine hohe Amplitude, und die Moleküle haben, eben durch diese Schwingungen, fast immer eine gewinkelte Form.

Bei den linearen Molekülen gleichen sich die Formänderungen durch Schwingungen mit der Zeit aus, und diese Moleküle, die man linear nennt, sind nur im zeitlichen Mittel linear. Mehr zu thermischen Svhwingungen, und insbesondere zu den hier relevanten Biegeschwingungen erfahren Sie in Kapitel 4.1.2.3..

 

 

Demnächst bearbeite ich diesen Abschnitt weiter.

Es kann aber noch etwas dauern.

 

 

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