6.1.10. Moleküle mit wippenförmiger Geometrie

Wie kommt es dazu ?

Von einem Atom gehen 4 Bindungen aus. Das Atom hat ein freies (einsames) Elektronenpaar.

Nach dem VSEPR–Modell stoßen sich die 5 Elektronenpaare ab. Sie versuchen, sich möglichst weit voneinander zu entfernen und ordnen sich daher in den Ecken einer trigonalen Bipyramide an. Eine Ecke der trigonalen Bipyramide wird vom einsamen Elektronenpaar besetzt, die anderen 4 von den Bindungselektronenpaaren.

Das Molekül (und damit meinen wir das Zentralatom und seine 4 Liganden, nicht aber das einsame Elektronenpaar) nimmt die Form einer Wippe oder Schaukel an. Das Zentralatom sitzt am Gelenk der Wippe. 2 Liganden (es sind die axialen Liganden der trigonalen Bipyramide) sitzen an den Enden der Wippenbalken. Die anderen 2 Liganden (es sind äquatoriale) sitzen an den Füßen des Wippenständers. Wir nennen diese Anordnung den AL4E–Molekültyp.

Ansehen : Starten Sie die JSmol–Visualisierung durch Anklicken des Links unter Bild 1. Betrachten Sie das Molekül aus verschiedenen Richtungen und blenden Sie in 3 Schritten die trigonale Bipyramide ein und wieder aus.

Viele Namen für ein Ding

Alle anderen Molekülgeometrien werden nach geometrischen Körpern benannt, nur diese nicht. Gibt es etwa keinen Körper, der passt ? Doch. Es ist das deutsche Flagge Disphenoid. Aber wer kennt das schon ?

Man kann die Geometrie also disphenoidal nennen. Man kann sie verzerrt tetraedrisch nennen, denn das Disphenoid ist ein verzerrter Tetraeder. Man kann sie wippenförmig (engl. seesaw) nennen. Und man kann sie sägebockförmig (engl. sawhorse) nennen. Genug ? OK.

Was wissen wir über die Liganden ?

Molekül mit Struktur einer trigonalen Bipyramide Molekül mit Struktur einer trigonalen Bipyramide

Bild 2 : Nur zum Vergleich nochmal die Geometrie der trigonalen Bipyramide, einmal stehend, dann liegend. Die axialen Bindungen sind blau, die äquatorialen rot gezeichnet.

Gehen wir von der trigonalen Bipyramide aus, aus der ja die wippenförmige Geometrie hervorgegangen ist. Dort gibt es 5 Liganden. Es sind 2 axiale, die zu ihren 3 Nachbarn einen Winkel von 90° bilden. Und es gibt 3 äquatoriale Liganden, von denen jeder 4 Nachbarn hat : 2 axiale in einem Winkel von 90° und 2 äquatoriale in einem Winkel von 120°. Sehen Sie sich diese Situation in Bild 2 an. Die axialen Liganden sind blau gezeichnet, die äquatorialen rot.

In der wippenförmigen Geometrie besetzt das einsame Elektronenpaar eine der 3 äquatorialen Positionen. Warum eine äquatoriale und keine axiale ? Es braucht mehr Platz als ein Bindungselektronenpaar (vergleiche dazu meine Beschreibung des VSEPR–Modells). Und die äquatorialen Positionen bieten mehr Platz. Die Winkel zu den Nachbarn betragen 120° und 90°.

 

Das einsame Elektronenpaar braucht wirklich viel Platz. Nicht nur, dass es sich den besten Platz aussucht, es macht sich auch noch besonders dick. Es drückt die 4 Bindungselektronenpaare zur Seite. Die beiden axialen Bindungen bilden also keine gerade Achse mehr. Die Achse bekommt einen Knick. Die Bindungswinkel der „axialen” Bindungen betragen in der Regel zwischen 170° und 180°. Und auch der Winkel zwischen den „äquatorialen” Bindungen schrumpft von 120° auf bis zu 100°.

Ansehen : Starten Sie die JSmol–Visualisierung durch Anklicken des Links unter Bild 3. Mit dem Knopf „Markieren” können Sie die axialen Bindungen blau und die äquatorialen Bindungen rot färben.

Beispiele

Moleküle vom Typ AL4E sind selten. Im folgenden finden Sie 3 Beispiele.

 

Schwefeltetrafluorid-Molekül

Bild 4 : Schwefeltetrafluorid–Molekül. Sie sehen, dass die axialen Bindungen einen Winkel von weniger als 180° bilden.

Schwefeltetrafluorid interaktiv

Schwefeltetrafluorid SF4

Natürlich haben die Moleküle des Schwefeltetrafluorids die Wippenform.

Der Winkel zwischen den beiden axialen Bindungen beträgt 173,1°, der zwischen den äquatorialen 101,6°. Die äquatorialen Bindungen haben eine Länge von 154,2 pm. Weil rund um die axialen Bindungen weniger Platz ist, rücken die dort sitzenden Liganden etwas weiter vom zentralen Schwefelatom weg. Die axialen Bindungen sind dadurch etwas länger, nämlich 164,3 pm. Bild 4 zeigt die Situation.

Literatur : L–11, S. 564

 

 

Formel von Xenon-difluorid-dioxid
Xenon-difluorid-dioxid-Molekül

Bild 5 : Molekül von Xenon–difluorid–dioxid

XeO2F2 interaktiv

Xenon–difluorid–dioxid XeO2F2

Natürlich haben die Moleküle dieses Stoffes die Wippenform. Natürlich ? So natürlich ist das nun auch wieder nicht. Zählen wir mal die Elektronen nach. Das Xenonatom steuert 8 bei, die beiden Fluoratome je eines und die beiden Sauerstoffatome je 2, denn hier liegen Doppelbindungen vor. Die Valenzstrichformel sehen Sie links. Es sind (im Sinne des VSEPR–Modells – hier zählen Doppelbindungen einfach) 4 Bindungselektronenpaare und ein einsames Elektronenpaar vorhanden. Somit ergibt sich die Wippenform.

Die Sauerstoffatome besetzen die äquatorialen Positionen. Warum ? Sie sind über Doppelbindungen gebunden, die mehr Platz als Einfachbindungen brauchen, und die äquatorialen Positionen bieten ihn.

Die Bindungswinkel sind im erwarteten Bereich, ähnlich wie beim SF4. Der Winkel zwischen den axialen Bindungen beträgt 171°, der zwischen den äquatorialen 105,7°. Bild 5 zeigt das Molekül.

Über Xenon–difluorid–dioxid weiß man sehr wenig. Es hat einen Schmelzpunkt von 31° und ist instabil.

Literatur : L–51b, S. 154–156

 

 

Formel von Tellur-diphenyl-dibromid
Tellur-diphenyl-dibromid-Molekül

Bild 6 : Molekül von Tellur–diphenyl–dibromid

Tellur–diphenyl–dibromid interaktiv

Tellur–diphenyl–dibromid C12H10Br2Te

Nichts ist in Stein gemeißelt. Auch nicht die Behauptung, dass das einsame Elektronenpaar die axiale Bindung so sehr zur Seite drückt, dass sie einen Knick „nach unten” bekommt. Manchmal sind andere stärker.

Hier konkurrieren die beiden Phenylgruppen und das einsame Elektronenpaar, und weil die Phenylgruppen sehr sperrig sind, gewinnen sie. Der Winkel zwischen den axialen Bindungen beträgt 178,0°, aber zum einsamen Elektronenpaar hin.

Zum Ausgleich werden die Phenylgruppen (sie sind übrigens um knapp 60° gegeneinander verdreht) zusammengedrückt. Der Winkel zwischen den äquatorialen Bindungen beträgt vergleichsweise winzige 96,3°. Bild 6 zeigt das Molekül.

Über Tellur–diphenyl–dibromid weiß man sehr wenig. Es bildet schwefelgelbe Kristalle und hat einen Schmelzpunkt von 203°.

Literatur : L–203

 

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